"Beim Doktor ist das so!"

„Doktorspiele“ sind im Kindergartenalter ganz normal, das wusste Julia Lindner auch vorher. Trotzdem fiel es ihr anfangs schwer, ihrer Tochter das nötige Maß an Selbstbehauptung dabei zuzutrauen.

Im ersten Moment wussten wir nicht so ganz genau, was wir dazu sagen sollten, und den Kindern war es auch ein bisschen peinlich. Dass unsere „große“ Tochter Mia (5) und Nachbars Tim (6) seit kurzem mit Vorliebe „Doktor“ spielten, wussten wir. Aber dass sich beide als „Patientin“ oder „Patient“ komplett auszogen, um sich vom „Arzt“ oder der „Ärztin“ mit den Utensilien aus dem Arztkoffer untersuchen zu lassen, entdeckten wir erst, als wir eines Tages ahnungslos ins Kinderzimmer stolperten. „Das machen wir immer so“, klärte unsere Tochter uns auf, „das gehört doch beim Doktor dazu!“

Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits fand ich es ganz normal, dass die beiden auch solche Spiele miteinander ausprobieren und das andere Geschlecht erkunden wollten. Und keinesfalls wollte ich bei Mia den Eindruck erwecken, Neugier und Nacktheit seien etwas Schlimmes. Gespräche mit anderen Müttern und eine Fortbildung zur Prävention, in der auch die „normale“ sexuelle Entwicklung von Kindern zur Sprache kam, hatten mich in dieser Einstellung bestärkt.

Andererseits: Diesmal ging es nicht wie in der Fortbildung allgemein um „Kinder“, sondern um meine ganz konkrete Tochter. Kamen diese Erfahrungen für Mia nicht zu früh? Was konnte / sollte / müsste ich tun, damit diese Spiele wirklich Spiele blieben und Mia nicht gegen ihren Willen zu irgendwelchen „sexuellen Handlungen“ genötigt wurde? Sicherheitshalber schaute ich noch einmal in den Fortbildungs-Papieren nach, aber restlos beruhigten sie mich auch nicht. Worin genau zeigt sich denn das „unnatürlich sexualisierte“ Verhalten von Kindern, von dem da – als Hinweis auf einen möglichen sexuellen Missbrauch – öfter die Rede war?

Vertrauen, Offenheit und ein paar Regeln

Klar, dass ich solche Signale nicht übersehen wollte. Allerdings konnte ich bei Mia auch bei größter Aufmerksamkeit nichts Auffälliges feststellen. Weder in ihrem Verhalten noch bei einem Gespräch, das wir beim Abendessen darüber führten. Ja, Doktor-Spielen sei lustig und mache ihr Spaß, bestätigte Mia, und sie spiele sowieso immer nur mit, wenn sie selbst Lust dazu habe.

Also begnügten wir uns damit, ihr ein paar Regeln ans Herz zu legen: Spiele mit Ausziehen nur, wenn alle beteiligten Kinder das wirklich wollen und sich dabei wohlfühlen. Keine Spiele, bei denen ein Kind dem anderen etwas in die Scheide oder in den Po steckt, auch nicht zum „Fiebermessen“. Und: keine Spiele mit Ausziehen, wenn Mias kleine Schwester Sara dabei ist – „Weißt du, Tim und du, ihr seid schon viel älter, und vielleicht traut sich Sara bei euch nicht ehrlich zu sagen, wenn sie etwas nicht möchte, und macht trotzdem mit. Verstehst du das?“ „Ja klar“, meinte Mia.

Ich weiß, dass Mia und Tim weiterhin Doktor gespielt haben, und ich sehe keinen Grund, das zu verhindern. Dabei vertraue ich nicht nur auf die Wirkung dieses einen Gesprächs, sondern auf den Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität in unserer Familie insgesamt. Wir haben unseren Töchtern von Anfang an beigebracht, dass sie deutlich sagen dürfen und sollen, wenn sie etwas nicht mögen, die Küsschen von Verwandten, auch von uns Eltern inklusive. Ob bei wilden Spielen, beim Kitzeln oder Umarmen – der Satz „Lass das / Stopp / Hör auf, ich will das nicht“ ist ein „heiliges Zeichen“, an das sich bei uns alle halten.

Auch wir benennen Grenzen

Wir sagen ihnen auch unsererseits klar, wo unsere Grenzen liegen: Wir möchten alleine aufs Klo gehen, nicht im Intimbereich angefasst werden, aber auch abends unsere Ruhe haben und uns zu Ende unterhalten … Andererseits ist Nacktheit bei uns kein Tabu; wir ziehen uns auch vor den Kindern an und um, sie sehen uns nackt, sie wissen, dass Frauen und Männer unterschiedlich aussehen und wozu Scheide, Busen und Penis da sind. Erst in dieser Atmosphäre, die auch Offenheit für ihre Neugier in sexuellen Dingen einschließt, kann ich wirklich auf die eigenständige Entwicklung unserer Töchter und die Wirkung unserer Worte vertrauen.